Neue Oper Wien goes Back to the Roots: Das Jugendstiltheater im Otto-Wagner-Areal
Das heutige Otto-Wagner-Areal war einst die modernste psychiatrische Klinik ihrer Zeit. Als „Niederösterreichische Landes-Heil- und Pflegeanstalten für Geistes- und Nervenkranke Am Steinhof Wien“ war es wie eine eigenständige Stadt mit Fleischerei, Wäscherei, Gemüse- und Obstgärten – eine „Stadt außerhalb“, die zur Zerstreuung und zu Therapiezwecken auch ein Veranstaltungsgebäude, heute Jugendstiltheater genannt, beheimatete. Carlo von Boog entwarf die Anlage, später überarbeitete Otto Wagner den Lageplan, der besonders bei der Gestaltung des Theaters nach dem Grundsatz „den Ärmsten das Schönste“ arbeitete. Das Herzstück der Anlage bildet die zentrale Achse bestehend aus Verwaltungsgebäude, Theater, Küche und Kirche, während sich im Westen der Sanatoriumsbereich befand: Frauen links, Männer rechts. Acht Pavillontypen, alle samt an bürgerliche Villen erinnernd, boten maßgeschneiderte Unterkünfte – von offenen Strukturen bis hin zu geschlossenen Gebäuden für unruhige Patientinnen und Patienten. Der luxuriöse Sanatoriumsteil für die betuchten Gäste finanzierte den allgemeinen Krankenhausbetrieb.
Während des Ersten Weltkrieges wurde das Areal als Lazarett genutzt, in der späteren NS-Zeit war es Schauplatz unfassbarer Verbrechen unter dem Deckmantel der Medizin: Im Rahmen der nationalsozialistischen „Aktion T4“ wurden in den Jahren 1940 und 1941 insgesamt 3200 Patientinnen und Patienten deportiert und in der Tötungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz ermordet. Die systematische Auslöschung richtete sich gegen Menschen, die aufgrund psychischer Erkrankungen, körperlicher Einschränkungen oder sozialer Abweichungen von der nationalsozialistischen Ideologie als „lebensunwert“ deklariert wurden. Weiters fungierte zwischen 1940 und 1945 ein Teil des weitläufigen Geländes unter der Bezeichnung „Am Spiegelgrund“ als sogenannte „Kinderfachabteilung“ – ein perfider Euphemismus für eine Einrichtung, in der 772 Kinder und Jugendliche dem systematischen Morden der NS-Rassenhygiene zum Opfer fielen. Hier entschieden Ärzte – unter der Leitung von Heinrich Gross – mit bürokratischer Kälte über Leben und Tod, wobei die Ermordung der Kinder mit dem Anspruch auf wissenschaftlichen Fortschritt gerechtfertigt wurde. Auch nach Kriegsende fanden die Verbrechen ihre düstere Fortsetzung: Mehr als 400 konservierte Präparate der Hirne und Köpfe der ermordeten Kinder wurden zwischen 1954 und 1978 von Gross und seinen Mitarbeitern für Publikationen genutzt. Die grausame Instrumentalisierung menschlichen Lebens im Dienste einer vermeintlichen Forschung zeugt von einer zur Gänze entmenschlichten Wissenschaft. Als Zeichen gegen das Vergessen wurde vor dem Jugendstiltheater ein Mahnmal für die Spiegelgrund-Opfer errichtet. Jede der 772 Lichtstelen steht für ein zerstörtes Leben. Das Konzept wurde 1999 von einer Schülerin der Höheren Graphischen Bundeslehr- und Versuchsanstalt entworfen und setzt auf eine strenge, unbewegliche Anordnung von Lichtquellen, die mit Einbruch der Dunkelheit aktiviert werden – eine Metapher für die Lebensrealität der „Kinder vom Spiegelgrund“, deren Schicksale durch ein unmenschliches System festgeschrieben wurden.
Das verborgene Juwel mit bewegter Geschichte
Das heute als Jugendstiltheater bekannte Gesellschaftshaus am Steinhof wurde zwischen 1904 und 1907 von Franz Berger und Carlo von Boog im barocken Jugendstil errichtet. Mit seiner prächtigen Freitreppe, leicht erhöht in der Position, wirkt das Gebäude elegant und erinnert fast an einen italienischen Landsitz. Gusseiserne Laternen säumen die Rampen, und von der großzügigen Terrasse eröffnet sich ein weiter Blick über den angrenzenden Park. Der Eingang ist mit reizenden Wienerberger-Fliesen versehen, und selbst die Heizkörper sind kleine Kunstwerke. Wüsste man nicht, dass sich das Gebäude auf einem ehemaligen Klinikgelände befindet, könnte man sich vorstellen, dass es in den 1910er und 20er Jahren für zahlreiche festliche Anlässe genutzt wurde: mit Charme und unaufdringlicher Großzügigkeit könnten hier rauschende Feste, elegante Bälle und intellektuelle Salons stattgefunden haben. Gelächter, Champagner und Kerzenschein inklusive. Möglicherweise gab es diese Feste auch, in Wahrheit war es aber ein Mehrzweckgebäude, das mit seiner Position zwischen Kirche und Direktionsgebäude damals das Bindeglied zwischen der „Macht des Geistes“ und der „Rationalität der Verwaltung“ verkörperte. Der große Festsaal mit seiner kleinen Bühne – ergänzt durch einen Balkon für die medizinische Leitungsebene – bot Platz für etwa 600 Gäste, während die angrenzenden Nebenräume auf vielfältige Weise genutzt wurden. Bemerkenswert ist die zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitete Auffassung, dass Kunst und Kultur einen heilenden Einfluss auf Patientinnen und Patienten haben könnten. Eine Perspektive, die lange Zeit in Vergessenheit geraten war, doch heute in der Medizin zunehmend wieder Beachtung findet.
Fast ein halbes Jahrhundert blieb das Theater hinter den Klinikmauern verborgen, bis es als „Jugendstiltheater“ wiederentdeckt wurde. Seine Geschichte spiegelt die gesellschaftlichen, politischen und medizinischen Umbrüche Wiens wider: Im Ersten Weltkrieg diente der Festsaal – analog des gesamten Areals – als Reservelazarett, während im Zweiten Weltkrieg dort hauptsächlich medizinische Akten gelagert wurden. Später bespielte eine Theatergruppe aus Klinikbediensteten die Bühne, und in den 1980er-Jahren wurde hier ein neuartiges Musiktherapie-Programm erprobt.
Im Jahr 1989 entdeckte Olivier Tambosi auf der Suche nach einem Proberaum für eine Inszenierung von Mozarts Bastien und Bastienne das leerstehende Theater am Steinhof. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Haus von Alois Hofinger, einem musikbegeisterten Krankenpfleger, geleitet, der mit einem Jahresbudget von in Etwa 2100 Euro eine Palette an Veranstaltungen für die Patientinnen und Patienten organisierte. Tambosi fand Gefallen an diesem einzigartigen Ort und entschloss sich, dort nicht nur zu proben, sondern auch die Bühne zu erobern. Gemeinsam mit dem Pianisten und Dirigenten Matthias Fletzberger, Sänger Wolfgang Gratschmaier und dem inzwischen zum Operndirektor avancierten Hofinger benannten sie – heute würde man sagen: aus Marketingzwecken – das Theater am Steinhof in Jugendstiltheater um.
Im darauffolgenden Jahr trat ein gewisser Walter Kobéra auf den Plan, ausgestattet mit einem echten Mozart-Hit: Idomeneo. Man traf sich, schmiedete Pläne, verwarf sie und verwirklichte sie doch – ein faszinierendes Spiel aus kreativen Geistern, das die Wiener Opernszene und die Neue Oper Wien ins Leben rief. Anlässlich des 30-jährigen Bestehens der Neuen Oper Wien erschien das Buch Begegnungen von Peter Silvester Lehner und Walter Kobéra, das reichhaltig dokumentiert, welche Begegnungen die Neue Oper geprägt haben. Am Anfang des Buches findet sich ein eindrucksvoller Beitrag von Olivier Tambosi, der diese aufregende Anfangszeit mit all ihren Höhen, Tiefen und skurrilen Momenten reflektiert. So beschreibt er die schillernden Gegebenheiten rund um eine Aufführung von besagtem Idomeneo: „Die Patient:innen des Psychiatrischen Krankenhauses hatten freien Eintritt bei allen Vorstellungen und jederzeit Zutritt zu unseren Proben. Viele Patient:innen machten Gebrauch davon, offenbar gefiel es ihnen, bei den Proben zuzuschauen oder sie empfanden die Atmosphäre und die Musik als anregend. Manche begannen in ihren Gesprächen Probensituationen nachzuspielen oder übernahmen theatertypische Ausdrücke und Verhaltensweisen. An der Busstation oder beim Imbissstand vor dem Haupteingang des Krankenhauses hörte man Patient:innen davon sprechen, ‚heute keine Probe zu haben‘, ‚eine Szene anders anlegen zu wollen‘ oder ‚gut bei Stimme zu sein‘. Bei der zweiten Vorstellung des Idomeneo geschah es kurz nach Beginn der Ouvertüre, dass sich in der ersten Zuschauerreihe, schräg hinter Walters Dirigentenpult, ein älterer Herr erhob, einen Dirigentenstab aus seiner Jacke zog und von da an die Vorstellung bis zum Ende voll mitdirigierte. Mit suggestiven Gesten und intensivem Blickkontakt forderte er immer dann die verstärkte Aufmerksamkeit des Orchesters, wenn er den Eindruck hatte, die Musiker achteten mehr auf Walter als auf ihn. Am Ende verbeugte er sich zeitgleich mit Walter und dankte für den Applaus.“
Diese Anekdote namens „Der Schattendirigent“ und weitere Geschichten rund um die Anfänge der Neuen Oper Wien können in besagtem Buch (Infos dazu hier) nachgelesen werden. Insgesamt wurden 14 Opernproduktion im Jugendstiltheater realisiert: Mozarts Idomeneo (1990), Cherubinis Medea (1991), Mozarts Die Zauberflöte (1991), Verdis Macbeth (1992), Hartmanns Simplicius Simplicissimus (1992), Poulencs LaVoix Humaine und Davies Das Medium (1992), Donizettis Don Pasquale (1993), Kreneks What PriceConfidence? (1993), Süss‘ Sphinx & Strohmann (1995), Weills Der Silbersee (1995), Aufstieg und Fall derStadt Mahagonny (1998), Eislers Die Maßnahme (1998), Bergs Wozzeck (2002), Schwertsiks Katzelmacherund Weills Die sieben Todsünden (2005).
Nach Jahrzehnten des Wandels und der Unsicherheit steht das Jugendstiltheater nun vor einer neuen Zukunft. Während die letzten offiziellen Aufführungen 2008 stattfanden, blieb das Haus lange Zeit ungenutzt. Ein geplanter Wohnbau auf dem Otto-Wagner-Areal löste öffentliche Proteste aus, und jahrelange Debatten über die zukünftige Nutzung des Geländes folgten. Zwischenzeitlich war das Theater Teil der Wiener Festwochen, doch eine dauerhafte kulturelle Nutzung ließ auf sich warten. Erst 2018 schien sich mit der geplanten Übersiedlung der Central European University (CEU) eine neue Perspektive aufzutun – ein Projekt, das schließlich 2022 scheiterte. Heute werden die Pavillons saniert, und mit dem geplanten Einzug für Kunst und Kultur sowie diversen anderen Veranstaltungen zeichnet sich eine neue Phase in der Geschichte des Areals ab.
Für die Neue Oper Wien bedeutet die Rückkehr an diesen Ort jedoch weit mehr als ein nostalgisches Wiedersehen. Hier wurden vor über 30 Jahren die ersten großen Produktionen realisiert, hier fanden Künstlerinnen, Künstler und Publikum gleichermaßen einen außergewöhnlichen Raum für musikalisches Theater jenseits der traditionellen Opernhäuser. Dass sich nun wieder der Vorhang hebt, ist ein besonderes Zeichen – nicht nur für die Neue Oper Wien, sondern für die lebendige Geschichte dieses einzigartigen Ortes. Die Neue Oper Wien freut sich, erneut im Jugendstiltheater zu spielen: Back to the Roots!
Cachafaz
Österreichische Erstaufführung
Musik: Oscar Strasnoy
Libretto „Cachafaz“, barbarische Tragödie von Copi
Vorstellungen in Wien
15., 18., 20. & 22. März 2025, jeweils 19:30 Uhr
Jugendstiltheater, Otto Wagner-Areal, Baumgartner Höhe 1, 1140 Wien (siehe Anfahrtsplan)